Elkes Buch
Leseproben
Mit dem Hubschrauber in die Steinzeit
November 2001
Durch die Windschutzscheibe des Helikopters bestaunte ich die
wildromantische Landschaft von Papua-Indonesien. Schroffe graue
Felsen ragten aus steilen, von Bergdschungel bedeckten Hängen heraus.
Wasserfälle stürzten sich in reissende Wildwasserflüsse. Hier und
da sah ich ein Grüppchen von kleinen Hütten und Gärten und selten
einmal wellblechgedeckte Gebäude neben einer kleinen Graslandepiste.
Die letzten Strassen, die einige Bergdörfer mit Wamena verbanden, wo
sich unsere Helikopter-Basis befand, hatten wir schon lange hinter uns
gelassen.
Wir waren unterwegs zu einer Pioniermissionsstation inmitten eines
abgeschiedenen Urwaldgebirges. Die Menschen, die dort noch so lebten
wie ihre Vorfahren seit zahllosen Generationen, waren erst vor wenigen
Jahren entdeckt worden. Ich stand kurz davor, einige der letzten Menschen
kennenzulernen, die noch unter Steinzeitbedingungen lebten. Meine
Gefühle schwankten zwischen Vorfreude und Besorgnis, während ich
die exotische Vegetation, braune Tümpel und Flächen von weissem Sand
betrachtete, die unter mir vorbeizogen.
Andys Stimme im Kopfhörer riss mich aus meinen Gedanken.
«Möchtest du mal fliegen?»
Mein Herz begann zu rasen. Ich hatte mich bisher nie getraut zu fragen,
ob ich einen Hubschrauber steuern dürfte. Mein Vater hatte nur
meinen Bruder steuern lassen, wenn er uns Kinder auf Rundflüge in den
kleinen Flugzeugen seines Flugklubs in Deutschland mitgenommen hatte.
Jetzt war ich dran!
Andy erklärte mir ein paar Grundlagen der Helikoptersteuerung, den
«Cyclic»-Steuerknüppel vor mir, den «Collective»-Knüppel links neben
mir und die Pedale für den Heckrotor; dann übernahm ich die Steuerung.
Ich staunte, wie sensibel alles reagierte.
Andy erklärte weiter: «Als ich fliegen lernte, sagte mein Fluglehrer: ‹Wenn
du den Knüppel hochziehst, werden die Häuser kleiner, wenn du ihn runterdrückst,
werden sie grösser.›»
Wahrscheinlich galt dasselbe für Bäume, denn es war weit und breit kein
Haus zu sehen.
Als nach ein paar Minuten die Wolken dichter wurden, übernahm Andy
wieder die Steuerung. Wie schade, dass mein erster Hubschrauberflugversuch
so schnell zu Ende ging, aber ich konnte es kaum erwarten, meinem
Bruder davon zu schreiben.
Auf lange Sicht ist das Leben doch noch fair!
In Deutschland hatte ich es genossen, die schöne Landschaft mit ordentlichen
Städtchen, gepflegten Wäldern, Feldern, Strassen und Bahnlinien aus
der Vogelperspektive zu betrachten. Welch ein Unterschied zur majestätischen,
ungezähmten Schönheit der Insel Neuguinea, der zweitgrössten Insel
der Welt, einige Grad südlich des Äquators am Pazifischen Feuerring gelegen!
Nach eineinhalb Flugstunden kamen wir zu einer völlig bewaldeten und
scheinbar unbewohnten Bergregion. Eine dünne Rauchsäule stieg von einer
winzigen Lichtung am Hang auf. Bei näherem Hinsehen entpuppte sich
diese als Garten mit einigen Hütten. Der Moi-Stamm lebte nicht in Dorfgemeinschaften,
sondern in winzigen, über die Gegend verstreuten Weilern. Dies war wohl der Grund,
warum sie nicht früher entdeckt worden waren.
Jetzt sah ich eine weitere Lichtung, diesmal mit Wellblechdächern. Drei
Holzhäuser standen in der Nähe eines kleinen ebenen Platzes, der sich als
Hubschrauberlandeplatz der Moi-Missionsstation herausstellte. Andy landete
und die drei Familien des Teams begrüssten uns.
Einige junge Moi-Männer schauten von Weitem zu. Sie trugen Pfeile
und Bögen und als Kleidung nichts als lange, dünne Kürbishülsen als Penisfutterale.
Vor ein paar Minuten hatte ich diese Welt noch aus der Vogelperspektive
betrachtet. Jetzt war ich mittendrin gelandet!
Als ich später dem davonfliegenden Hubschrauber hinterher sah, überkam
mich ein mulmiges Gefühl: Zurückgelassen!
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Auszug aus dem Kapitel:
Jetzt geht’s los!
Unterhaltung beim Spaziergang durch ein Papua-Bergdorf mit Grasslandepiste:
«Warum arbeiten eigentlich nur die Frauen hier an der Landebahn?», fragten wir Myrna.
«Das ist Teil der Kultur», erklärte sie uns. «Die Männer sind für die
schweren, einmaligen Arbeiten zuständig, wie Häuser bauen und Gärten
anlegen, wofür Wald gerodet werden muss. Die Frauen erledigen die
täglichen, andauernden Arbeiten. Traditionell waren die Männer auch noch
für die Kriege zuständig und dafür, die Frauen und Kinder in den Gärten zu
beschützen. Die Frauen sind also an tägliche schwere Arbeit gewöhnt, um
Essen zu beschaffen und auch die Landebahn in Ordnung zu halten.»
«Die Frauen beschützen? Vor wem oder was denn?», fragten wir.
«Vor feindlichen Kriegern. Wenn von einem Stamm mehr Leute als von
ihren Gegnern im Kampf getötet werden, wird oft eine Frau oder ein Kind
des anderen Stammes getötet, um den Stand wieder auszugleichen.»
Während wir weitergingen, versuchte ich all das Gehörte zu verarbeiten.
«Seht mal die alte Frau!», rief Ernst bestürzt aus. «Sie hat ja gar keine
Finger mehr, nur noch Stummel. Was ist ihr denn passiert?»
Als wir uns weiter umsahen, stellten wir fest, dass vielen anderen älteren
Frauen auch Fingerglieder fehlten, aber nicht den jüngeren. Buzz gab Ernsts
Frage an die Frau weiter.
«Als ich ein kleines Mädchen war, starb meine Mutter», antwortete sie
und Buzz übersetzte für uns. «Wie es damals Sitte war, wurden mir als Zeichen
der Trauer die Finger abgehackt.»
Mir wurde fast schlecht.
«Und wenn du stirbst, werden dann deiner Tochter auch die Finger abgehackt?», fragte Ernst.
«Nein, nein!», antwortete die Frau. «Wir kennen jetzt das Evangelium
und haben damit aufgehört.»
Auch in Wamena würde ich immer wieder ältere Frauen mit fehlenden
Fingergliedern treffen. Nicht nur beim Verlust enger Angehöriger wurden
damals Mädchen Fingerglieder abgehackt, sondern auch beim Tod einflussreicher
Männer.
Auszug aus dem Kapitel:
Kampf den Nagern
Ich zuckte ich beim Geschirr wegräumen zusammen. Ein
langer dünner Schwanz ragte hinter einem Stapel Schüsseln hervor!
«Wie bist du denn hier reingekommen?»
Dann fiel mir ein, dass wir das Loch in der Hauswand nicht zugestopft
hatten, durch das der Schlauch nach draussen zur Gasflasche geführt wurde.
Durch dieses Loch hatten die Ratten nun freien Zugang ins Haus!
O nein, wie werden wir die denn jetzt wieder los? Und wie viele sind überhaupt
reingekommen?
Es war ein entnervender Gedanke, dass diese Viecher jetzt über alle unsere
Teller, Töpfe und Pfannen spazierten und unseren Vorratsschrank bevölkerten.
Ratten können Krankheiten wie Bauchtyphus verursachen, also mussten
wir schnell handeln. Wir verstopften das Loch und ich überlegte, wie wir
unsere ungebetenen Gäste loswerden konnten.
Was ist die beste Verteidigung gegen Ratten? Katzen!
Als ich die Ratte das nächste Mal im Vorratsschrank sah,
war es Zeit Brianas schwarzen Kater M. G. (sprich: Em-Dschi) zum Einsatz zu bringen.
Ich rief Luana an und einige Minuten später lieferte sie den «Stubenpanther» ab.
Wir setzten M.G. in den Schrank, schlossen die Tür und horchten. Nichts. Wir klopften
auf das Holz, um die Dinge in Bewegung zu bringen. Immer noch nichts.
Vorsichtig öffneten wir die Tür, um nachzusehen. Zwei grosse, runde Katzenaugen
sahen uns an. M. G. war vor Angst erstarrt, vermutlich genauso
wie die Ratte, die jetzt ein grosses, gefährliches Raubtier roch. Mein Plan war
fehlgeschlagen.
M. G. sprang aus dem Schrank und schoss hinter den Holzofen in Deckung.
(Vielleicht hätten wir vorher eine Einsatzbesprechung mit ihm halten
sollen).
«Such was, womit du die Ratte totschlagen kannst», wies Luana mich
an und begann Sachen aus dem Vorratsschrank zu nehmen. Ich zog erst
die Augenbrauen hoch, holte dann aber einen Besen. Nervös beobachte ich,
wie Luana Alufolie, Cornflakes, Mehl, Zucker und Nudelpäckchen aus dem
Schrank holte.
«Aaaah!» schrien wir beide, als die Ratte vom oberen Brett aus an uns
vorbeiflog. Während der Nager noch vom Aufprall auf dem Küchenboden
benommen war, schlug ich mit dem Besen auf ihn ein – und hasste mich
selbst dafür. Oh, das arme kleine Ding! Die Ratte war noch jung, hatte aber
schon einen sehr langen Schwanz.
Eine war erledigt, aber wie viele waren es noch und wo waren wohl die Eltern?
Als Kind hatte ich Mäuse in einem Käfig gehalten und liebte es, ihnen
zuzusehen. Jetzt konnte ich mir allerdings keine Sentimentalitäten leisten,
denn unsere Gesundheit und unsere Lebensmittel standen auf dem Spiel.
Und überhaupt: Wieso konnten sie nicht eine Packung aufmachen und leer
fressen, sondern mussten alle anknabbern? Sie liebten wahrscheinlich verschiedene
Geschmacksrichtungen und Abwechslung. Bald hatten alle Lebensmittel
im Vorratsschrank, welche nicht in Glas verpackt waren, Löcher:
die Haferflocken, das weisse und das Schokomilchpulver und vieles andere.
Noch nicht einmal meine stabilen Plastikbehälter waren sicher!
An einem der nächsten Tage arbeitete ich am Computer im Arbeitszimmer,
als ich etwas im Papierkorb rascheln hörte. Dann schoss ein kleines,
braunes Tier vom Schreibtisch zum Gästebett.
Was jetzt? Katze klappt nicht, wir brauchen eine neue Strategie!
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